Ist der «Zug» für diejenigen, die ihre Logistik noch nicht digitalisiert haben, «schon abgefahren»? Natürlich nicht. Sonst hätte die Branche, die permanent mit Innovationen zugange ist, nichts mehr zu tun. Damit - und mit immer noch vorhandenen «digitalen Lücken» befasste sich der SVTL-Themen-Fokustag in Halle 550 in Zürich.

 Mit einem Sketch über die Schwierigkeiten, mit denen online-Konferenzen zu Corona-Zeiten verbunden sind («Kannst Du mich hören?», «funktioniert die Kamera?») und der Freude darüber, dass der Event «real» stattfinden konnte, nahm der von GS1 und SVTL gemeinsam veranstaltete SVTL-Fokustag in Oerlikon einen humorvollen Auftakt.

Organisator Geog Burkhardt berichtete, dass nach ein wenig Einarbeitungszeit die Online-Konferenzen «gar nicht so schlecht» seien. Im Fortbildungsbereich funktionierten in den zurückliegenden Monaten Workshops mit Diplomanden in der Praxis ganz gut. Burkhardt: «Wir werden viele der coronabedingt entwickelten neuen Wege beibehalten und zu unserem Vorteil nutzen können». Schliesslich seien Digitalisierung und Automatisierung im Bereich der Logistik und Intralogistik ausgesprochen erfolgversprechend miteinander verbunden. «Es gibt aber immer noch viele, die die Chancen nicht nutzen», bestätigt GS1-Transport & Logistik-Manager Jan Eberle.

Zukunfts-»Botschafter» Jörg Eugster, in knalligen Farben (türkis) bis hin zu den knallblauen Socken mit hoher Aufmerksamkeit bedacht, unternahm zum Auftakt mit den 86 Teilnehmern eine Zeitreise in bevorstehende Jahrzehnte. Er könne im Grunde «aber nur zeigen, was sich bereits heute abzeichnet».

Aussteller in Halle 550

Irgendwann in fernen Jahren werde ein Enkelkind im Gespräch mit dem Grossvater über vergangene Zeiten diskutieren, und anhand alter Fotos «komische Strassenbeleuchtungen» hinterfragen (so genannte «Ampeln», die in der Nachwuchs-Ära längst durch IT, selbststeuernde Systeme, Sensoren und Assistenzsysteme ersetzt sein werden). Pick&Go-Systeme, die im Lager selbsttätig mit dem Kommissionierer Schritt halten, könnten künftig etwa auch dazu dienen, beim Spaziergang permanent mit dem Handy hantierende Mütter beim Achtgeben auf den Kinderwagen zu unterstützen. Der würde automatisch mit herannahenden Autos kommunizieren, die dann mit kurzer Latenzzeit an der Kreuzung ihre Geschwindigkeit reduzieren, weil das System die nahende Gefahr rechtzeitig erkannt hat. Automatisierte Pws könnten koordiniert und www-gestützt navigierend innerhalb von Pausen bei der Personenbeförderung auch schnell noch ein paar Paket-Auslieferungen übernehmen.

Roboter von Boston Dynamics, die auf einer Teststrecke mühelos kleine Salto-Einlagen vorführen, andere, die als als Pizza- oder Paketbote, für Amazon oder Alibaba noch schnell mal einen «Nebenjob» erledigen – denkbar, so Eugster, seien unendlich viele Variationen. Es schreite alles, beinahe schon «unaufhaltsam», voran.

Mario Rusca, Leiter der Bildungs-Entwicklung bei GS1 Schweiz, braucht seiner Auffassung nach nicht allzu weit in die Zukunft zu greifen. «Wir stecken schon mitten drin», meint er. Was natürlich auch die bereits angedeuteten Vorteile habe. «Digitale Lernräume werden sich mit selbstgesteuertem, `asynchronem´ Lernen der Auffassungsgabe und Schnelligkeit der jeweils Teilnehmenden anpassen. «Auch ein wenig inspiriert durch Corona», gibt Rusca zu, «können diese Lernräume künftig nahezu überall sein». Gute Anregungen auch für die Bildungsinstitution GS1 Schweiz, die regelmässig ihren Bildungsauftrag auf notwendige Aktualisierungen überprüfe. Der Weg zum eidgenössischen Fachausweis als Logistiker solle künftig stärker modular aufgebaut werden. Auch die höhere Fachprüfung, der Supply Chain Manager mit eidgenössischem Diplom, werde blockweise besser zu belegen und zu absolvieren sein. Rusca: «Die Berufsbilder verändern sich, es kommen neue Kompetenzen hinzu». Mit blossem Fachwissen jedenfalls könne heutzutage «niemand mehr auftrumpfen».

Gespräch mit dem Zukunfts-«Botschafter»

Mit der Entstehungs-Geschichte von EDI-Stammdaten und deren Zukunft befasste sich Marcel Hangartner von der Descartes STEPcom AG (rund 1500 Mitarbeitende). «Da gab es mal `ne richtige Welle um das Jahr 2000 herum», so der Experte. «Aber was kommt danach?» Vor 50 Jahren war das mal eine Idee der US-amerikanischen Armee, um die Lieferketten der Militärs in ihren Abläufen besser miteinander zu verknüpfen. 1974 kam dann ein erster Strichcode zur Produktidentifizierung. «Daten müssen eben in irgendeiner Form übertragen werden – dafür bedarf es einer Struktur, und eine gemeinsame Sprache».

Philipp Antoni von der jungen Online-Plattform «Notime», von Beginn an digital unterwegs, berichtet von 3000 Sendungen pro Tag in den elf grössten Städten der Schweiz und an 17 Migros-Standorten, die unter anderem mit Digitec Galaxus in ein «SameDay-Projekt» mündeten, in Kooperation mit der Schweizerischen Post als «Muttergesellschaft» und mit Velo-Kurierdiensten bewusst «nachhaltig» abgewickelt. Antoni: «Wir sind natürlich eine kleine Nummer im Vergleich zur Post, aber innovativ auf der Letzten Meile unterwegs».

Längst digital auch Andreas Seide von Shippeo. Er garantiert mit Slot Management und Echtzeitinformationen 80 Prozent Genauigkeit bei der Estimated Time of Arrival (ETA), wenn sie 12 Stunden vor der Lieferung abgefragt werde, und 90 Prozent bis zu drei Stunden davor.

Raphael Pfarrer beschäftigt sich bei der AWK vorwiegend mit Daten-Analyse. Wenn erstmal der Anfang beim Sammeln der Daten gemacht sei, «liegt die Fundgrube direkt auf Ihrem Grundstück (…) Wenn Sie das haben, können Sie anfangen, Zusammenhänge und Ergebnisse sichtbar zu machen». Und dies dann dementsprechend einsetzen. «Leute, die heute schon ihre Daten haben, können sich sehr schnell adaptieren und an wechselnde Verhältnisse anpassen». Raphael Bink, ebenfalls von der AWK: «Als Ergebnis können Sie grösseres Vertrauen in die Prognose haben. Unternehmerische Entscheidungen fallen auf dieser Grundlage deutlich leichter». Geschehe das hingegen unvorbereitet, «landen viele in der Vorhölle von Pilotprojekten».

Genug Anlass also, um in einer Podiumsdiskussion nachzufragen, ob es für manche Unternehmen, die bislang keine Daten in eigener Sache gesammelt zu haben, nicht schon zu spät sei.

Fotos: Koch

Rainer Schulz von Miebach Consulting: «Nein, das denke ich nicht. Es gibt genug Möglichkeiten aufzuholen, und noch viel Spielraum zur Automatisierung».Walter Künzler (Saviva AG) zufolge ist der Stand auch innerhalb von Betrieb sehr unterschiedlich. «Da klafft die Schere schon intern oft sehr weit auseinander».

Transgourmet-Logistikchef Jürg Schenk sieht sein Unternehmen top-modern aufgestellt. «Wir haben einen Web-Shop und die entsprechende Systemlandschaft. Aber wir müssen viele Prozesse noch stabiler gestalten. Wir arbeiten jeden Tag daran».

Peter Galliker, Logistikchef beim bekannten Transport-Dienstleister berichtet, dass rein theoretisch bei Galliker «alle Kernprozesse bereits völlig papierlos» ablaufen könnten. Aber es gebe doch immer mal wieder unvorhergesehene Fälle, bei denen ein «Operator» eingreifen muss.

Jan Eberle glaubt, dass in der Logistik «viele Werkzeuge längst zur Verfügung» stehen. «Track & Trace gibt es jetzt seit 20 Jahren – aber wer wendet es im Betrieb wirklich an?“

Georg Burkhardt strebt an, ähnlich wie sich in der Schweizerischen Vereinigung für Temperaturgeführte Logistik SVTL seit einiger Zeit eine Arbeitsgruppe mit neuen Wegen in der urbanen Logistik befasst, auch eine Arbeitsgruppe zum Thema «Digitalisierung und Prozesse» anzustossen.

www.gs1.ch