Sind Logistikprozesse schlecht aufgesetzt, hilft auch die Digitalisierung nichts. In einem Hochlohn-Land laute die Frage auch nicht, ob in der innerbetrieblichen Logistik automatisiert werden müsse, sondern wie und bis zu welchem Grad. Bei Still diskutierten Experten auch am zweiten Tag des Logistikkongresses provokante «Thesen am Tresen».

Ist das Lager der Zukunft menschenleer – und wie hat die Pandemie neue Projekte beeinflusst und vorangetrieben? Julia Arlinghaus, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF sowie Inhaberin des Lehrstuhls für Produktionssysteme und -automatisierung an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg, formuliert es gleich der Klarheit halber. «Ich bin zwar Leiterin eines Automatisierungs-Instituts – aber eine Fabrik ohne Menschen wäre ein Albtraum». Dass hier nur Arbeitsplätze «wegrationalisiert» würden, könne sie nicht bestätigen. «Wir haben mit neuen Technologien auch ganz neue Möglichkeiten, Mitarbeitende gut in Positionen zu bringen, die mit kreativem Potential verbunden sind». Marina Hein studierte Logistikerin und Expertin im Bereich Automation, Fleet Management und IT-Spezialistin der Kion-Gruppe: «Ohne einen Leitstand geht es nicht – dort müssen die Menschen am richtigen Hebel sitzen».

IFF-Leiterin Julia Arlinghaus

Unbestritten ist, dass Corona Milliardenverluste eingebracht hat. Moderator Thilo Jörgl: «Trotzdem wurde weiter gebaut». In der Krise seien aber auch grosse IT-Projekte rückgefahren und vielfach die Zeit nicht genutzt worden, um die Digitalisierung voranzutreiben. Kevin Kufs, CEO bei Hermes Fulfilment, zuvor Supply-Chain-Chef bei der Otto-Gruppe, räumt ein, dass die Pandemie «natürlich alles durcheinander gebracht» habe. «Wir wussten erstmal nicht, wie sich das entwickelt». Zunächst sei es eine Kapazitäts-Frage gewesen, dem Online-Ansturm nachzukommen – dann sei es zur Herausforderung an den Service geworden, damit klarzukommen. «Wir haben uns damit auseindergesetzt», meint Kufs, «und sind jetzt stärker als zuvor». Ohne Automatisierung hätte sich das nicht bewältigen lassen. Frage sei nämlich auch, wieviele Mitarbeitende in solch einer Situation überhaupt noch zur Verfügung stünden, um solche Spitzen auffangen zu können. Gute Karten also für Intralogistik- und Automatisierungs-Anbieter, wie sie sich unter dem Dach der Kion-Gruppe finden. Marina Hein warnt trotzdem, dass es sich auch bei schon lange am Markt tätigen Anbietern meist bereits um spezielle Lösungen handelt. «Mal schnell `ne Gasse mehr dranhängen, ist gar nicht so einfach». Arlinghaus: «Beim Hochfahren sind es schnell mal Anlaufzeiten von sechs Wochen».

Unter Zeitdruck leide manchmal auch die Sorgfalt, vermutet Thilo Jörgl. Hein bestätigt, dass manche Unternehmen das auch gern selbständig versuchen, daran jedoch oft scheitern. «Die stellen sich das zum Teil zu einfach vor. Das kann aber schwierig werden. Man muss die Prozesse im Griff haben». Ein Lagerverwaltungs-System bilde nur ab, was vorher auch schon da – soll heissen: in der Grundkonzeption bereits angelegt war.

Laut Arlinghaus waren bei 300 Digitalisierungsprojekten, die vom Fraunhofer-IFF durchleuchtet worden seien, viele Technologien noch nicht ganz ausgereift. 50 Prozent der Projekte seien zwischendurch ins Schleudern gekommen, weil die Mitarbeitenden nicht ausreichend in Veränderungs-Prozesse einbezogen wurden und das System ablehnten. Jeweils «den Menschen mitzunehmen» sei eine gern genutzte Phrase. Wichtig sei aber, dies auch tatsächlich zu tun.

Marina Hein (Kion) und Kevin Kufs.

Bei den Anlagen-Anbietern, führt Kevin Kufs aus, seien rein personell «derzeit aber auch schon die Ressourcen ausgeschöpft». Der Logistikprozess sei bei aller Digitalisierung auch «der einzige Vorgang, der wirklich etwas zum Anfassen ist». Der Mensch, ergänzt Arlinghaus, bleibe «die flexibelste Komponente, die wir haben».

Die neue VDA 5050, die Robotsysteme unterschiedlicher Hersteller in einer gemeinsamen Schnittstelle zusammenführt, um es dem Menschen an der Schaltstelle leichter zu machen wird als wichtig erachtet. Arlinghaus: «Das ist der richtige Ansatz, mit dem wir notwendigerweise arbeiten müssen».

Der «Saftladen – ob nun dieser oder jener Provenienz – ist also so oder so noch in Entwicklung begriffen. Oder wie es angesichts der aktuellen Klimaveränderungen immer öfters auch in Wetterberichten heisst: Es bleibt spannend.

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