Das Team: Gronover, Recker, Prüfer (v.l.n.r.)

Klingt verrückt – und am Schluss landete beim «Deutschen Zukunftspreis» natürlich die Entwicklung des Corona Impfstoffs durch das Mainzer Unternehmen Biontech auf dem 1. Platz. Aber der Löwenzahn, mit dem der Reifenhersteller Continental inzwischen in Fahrrad-Pneus Kautschuk ersetzt, erzielte hohe Aufmerksamkeit.

Ob Lastwagen, Motorräder, Fahrräder oder Pkw: Pneus sind heutzutage Hightech-Produkte mit massgeschneiderten Eigenschaften. Sie in dieser Qualität zu fertigen, gelingt nur durch Kautschuk aus der Natur. Doch der hochwertige Rohstoff ist rar. Und seine Gewinnung in tropischen Regionen belastet oft die Umwelt. Lässt sich die Nutzung der Vorzüge von Naturkautschuk auch künftig gewährleisten – und zugleich auf eine nachhaltige Basis stellen?

Auszüge aus einem Interview mit dem Entwickler-Team Carla Recker (Continental AG, Hannover), Dirk Prüfer (Wilhelms-Universität Münster) und Christian Schulzer-Gronover (Fraunhofer Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie IME, Münster). Sie zeigten: Mit Kautschuk aus Russischem Löwenzahn lassen sich auf ökologisch verträgliche Weise Produkte herstellen, die denen mit Kautschuk aus herkömmlicher Fertigung ebenbürtig sind. Carla Recker leitet bei Continental das Expertenfeld Materialchemie und Taraxagum, Teil der Material- und Prozessentwicklung und Industrialisierung im Bereich Forschung und Entwicklung.

 Der «Löwenzahn-Pneu»

Frage: Aus welchen Materialien besteht eigentlich ein Reifen?

 

Carla Recker: (…) Reifen beinhalten etwa 15 bis 20 verschiedene Kautschukmischungen, die unterschiedlich je nach Teil und Funktion im Reifen sind. Jede Mischung ist also optimal für ihren Einsatzzweck und ihre Aufgabe ausgelegt. Dazu kommen zum einen verschiedene Kautschuke zum Einsatz, zum anderen Stoffe wie beispielsweise Füllstoffe, Weichmacher und das Vernetzungssystem.

Bei den Kautschuken unterscheidet man den Naturkautschuk, den man traditionell aus dem Hevea-Baum gewinnt; bereits vor über 150 Jahren begann seine Nutzung für Produkte. Seit etwa den 30er/40er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es auch zunehmend Synthesekautschuke, die ursprünglich als Ersatz für den Naturkautschuk entwickelt worden sind. Man musste aber feststellen, dass man den Naturkautschuk im Reifen nicht zu 100 Prozent ersetzen kann, weil die Eigenschaften zu verschieden sind. Zu den Qualitäten, die man bisher nicht synthetisch hinbekommt, gehören die hohe Schlagfestigkeit und Haltbarkeit von Naturkautschuk, ausgelöst durch die Dehnungskristallisation, die der Kautschuk zeigt. Das ist ein einzigartiges Merkmal von Naturkautschuk, weshalb m an ihn in modernen Reifen nicht vollständig ersetzen kann.

Die Nutzung von Russischem Löwenzahn zur Gewinnung von Naturkautschuk resultiert aus verschiedenen Schritten und Entwicklungsstufen. Ein Ausgangspunkt der Überlegungen war auch, dass Naturkautschuk aus dem Baum Hevea brasiliensis Probleme bereitet?

Recker: Der Naturkautschuk aus dem Baum kann nur in tropischen Regionen dieser Erde angebaut werden, was dazu führt, dass die potentiell zur Verfügung stehende Anbaufläche natürlich begrenzt ist, weil der Baum woanders nicht wächst. Das bedeutet, dass, wenn der Kautschukmarkt wächst und so zusätzliche Anbauflächen für den Kautschukbaum gebraucht werden, dies auf Kosten des tropischen Regenwaldes geht. Eine Lösung ist, nach Alternativen zu suchen, wenn der Naturkautschuk irgendwann knapp werden würde. Um dem vorzubeugen, haben wir unser Forschungsprojekt etabliert.

Ist es richtig, dass etwa 70 Prozent des Naturkautschuks in die Reifenindustrie gehen?

Recker: Ja, ca. 70 Prozent aller klassischen Kautschukrohmaterialien enden im Reifen, das ist der grösste Marktbereich für diese Rohstoffe.

Unter der Prämisse, dass das demnächst schwierig werden könnte, kommt Ihr Projekt zur rechten Zeit?

Dirk Prüfer: In Ergänzung: Was in der pflanzlichen Rohstoffproduktion passiert, nimmt schon dramatische Züge an. Ich war vor Corona noch in Südamerika. Wenn man über den tropischen Regenwald Brasiliens fliegt, brennt es nahezu überall. Und dies, weil unser aller Hunger nach billigen pflanzlichen Rohstoffen gross ist, sei es Soja, Palmöl oder eben auch Naturkautschuk. Im Interesse aller benötigen wir dringend Alternativen, die man auch hier anbauen kann. Diese zu entwickeln, benötigt jedoch Zeit und Unterstützung. Oftmals werden wir gefragt: «Wann seid ihr denn endlich fertig, wann gibt es Millionen von Löwenzahnreifen?» Das ist einfacher gesagt als getan, denn die Etablierung einer neuen Nutzpflanze bedarf meist langer Zeiträume. Umso mehr sind wir ein wenig stolz darauf, was wir bereits alles geschafft haben.

Wie und wann entstand die Idee, dass Löwenzahn Naturkautschuk liefern könnte?

Dirk Prüfer:
Das hat ursprünglich angefangen 1999, da haben wir schon am Löwenzahn geforscht. Wir haben damals den Milchsaft analysiert und unsere ersten Ergebnisse auf einem Kongress vorgestellt. Da war dann auch ein Vertreter von Continental im Auditorium, der kam auf uns zu und fragte uns: «Das ist ja spannend, dass ihr mit Löwenzahn arbeitet. Wisst Ihr auch um den Löwenzahn, der Kautschuk macht?» Den haben wir uns in der Folge genauer angeschaut und so ist dann die Kooperation über die Jahre gewachsen.

Christian Schulze Gronover: In den ersten Arbeiten haben wir uns um den Latex gekümmert, haben die Methoden zur Analytik auf den Löwenzahn angepasst, da man nicht alle Methoden einfach übertragen konnte. Letztendlich gab es dann 2010 eine erste Bewilligung für eine Modellstudie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Ich habe in Münster vor unserem damaligen Extraktionsgerät gestanden und war extrem gespannt, was nach den ersten Mahlungen der Wurzeln rauskam. Als ich das Gerät geöffnet und reingeschaut habe, war erstmal nichts zu sehen. Eine grosse Enttäuschung! Und dann habe ich in dieser Maschine rumgewühlt und siehe da, auf einmal kamen dann solche «Nuggets», wie wir sie dann genannt haben, zutage. Die hat Frau Recker erhalten und Materialprüfungen unterzogen.

Das war dann, glaube ich, bei Continental so der Aha-Moment, um festzustellen: In dieser Pilotstudie haben wir etwas gesehen, das geht in die richtige Richtung, jetzt müssen wir versuchen weiterzumachen.

Historisch gab es bereits Versuche aus Löwenzahn Naturkautschuk zu gewinnen, das ist aber in Vergessenheit geraten?

Dirk Prüfer: Die Verwendung des Russischen Löwenzahns als alternativer Naturkautschuk-Lieferant in Zeiten des Nationalsozialismus wird von uns stets kommuniziert (...). Damals sind rund um den Löwenzahn und andere Nutzpflanzen wie Weizen unheilvolle Dinge passiert, was auch in vielen Berichten aus der Zeit dokumentiert ist. Aus diesen Unterlagen war der Druck, der durch das NS-Regime ausgeübt wurde, deutlich ersichtlich.

Hier das Interview in voller Länge

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